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Eltern bleiben Eltern

Viele Kinder, die im SOS-Kinderdorf leben, haben weiterhin Kontakt zu ihren leiblichen Eltern oder Angehörigen. In schwierigen Beziehungen sorgen SOS-Mitarbeiter dafür, dass daraus keine Zerreißprobe wird – durch Empathie für die Kinder und deren Eltern.
Stella* lebt seit zwei Jahren im SOS-Kinderdorf. Nachdem die Mutter von Stella* starb, war der Vater zunehmend mit der Versorgung seiner Tochter überfordert. Er verlor seinen Job, nahm Drogen und rutschte immer tiefer in die Sucht. Einkaufen, Wäsche waschen, aufräumen – all das übernahm die kleine Stella für ihn. Vor zwei Jahren entschied das Jugendamt das Mädchen mit den langen braunen Haaren im SOS-Kinderdorf unterzubringen, da der Vater nicht angemessen für das Wohl seiner Tochter sorgen konnte. Kontakt hat Stella weiterhin zu ihm. Doch das Verhältnis mit den leiblichen Eltern löst viele, teils negative, Gefühle bei den Kindern aus. So auch bei Stella.

Anwalt der Bedürfnisse der Kinder

Einmal im Monat kommt der Vater zu Besuch ins Kinderdorf und einmal telefoniert sie mit ihm. Immer an ihrer Seite ist ein SOS-Pädagoge – der Diplom-Sozialpädagoge ist Mitarbeiter im Fachdienst Kinderdorffamilie mit Schwerpunkt Unterstützung und Begleitung von Eltern. Gemeinsam mit drei weiteren Kollegen, einem Sozialpädagogen und zwei Psychologinnen, kümmert er sich um die Moderation von schwierigen Eltern-Kind-Beziehungen – und steht sowohl den Kindern im Kinderdorf als auch deren Eltern zur Seite. Der Pädagoge versteht sich als „Übersetzungshelfer“ und als „Anwalt der Bedürfnisse der Kinder“. Diesen Titel hat Stella ihm verliehen: „Sie hat nach einem der ersten Treffen mit ihrem Vater zu mir gesagt: Sie sind ja wie mein Anwalt. Und ich habe geantwortet: Genau, ich vertrete deine Interessen.“
Stella wünscht sich weiterhin Kontakt zu ihrem Vater, doch gleichzeitig wühlt sie der Kontakt sehr auf und verunsichert sie. Sie ist froh über die 100-Prozent-Begleitung des Pädagogen, die sie sich ausdrücklich gewünscht hat. Denn ihr Vater ist immer für schmerzhafte Überraschungen gut. So wie heute. Ihr Vater hat Geburtstag, Stella will ihm am Telefon gratulieren. Nach fünfmaligem Klingeln geht Herr Sassmann* ans Telefon. „Hallo Papa.“ Stellas Stimme ist vor Aufregung ganz hoch. „Ich wünsche dir alles Liebe zum Geburtstag.“ Der Vater räuspert sich kurz, bevor er antwortet. „Das ist sehr lieb, dass du an mich denkst, Stella. Ich hätte gar nicht mehr mit deinem Anruf gerechnet.“ Das Mädchen zuckt zusammen. Stella kann seine Laune am Tonfall erkennen – und fühlt sich immer noch verantwortlich, wenn der Vater schlecht drauf ist. Und das, obwohl sie schon seit einiger Zeit im Kinderdorf lebt. Dann denkt sie, sie habe etwas falsch gemacht. Der Vater spricht weiter: „Ich hätte mich aber noch mehr gefreut, wenn du mir einen Brief geschrieben hättest!“ In diesem Augenblick schießen der Elfjährigen die Tränen in die Augen – der SOS-Pädagoge unterbricht und beendet das Telefonat, um zuerst Stella zu stabilisieren und später nochmal alleine mit dem Vater zu sprechen. „Im Fall von Stella schreite ich immer dann ein, wenn der Vater der Tochter unbewusst Schuldgefühle macht, indem er ihr suggeriert, sie sei keine gute Tochter, sie manipuliert oder mit seinen Erwachsenen-Themen belastet.“

Tochter fühlt sich für ihren Vater verantwortlich

In der Nacht nach dem Telefonat kann Stella nicht schlafen. Sie weint ihren Schmerz in ihr Kissen. Ihrer Kinderdorfmutter vertraut sie am nächsten Morgen ihren Kummer an. „Ich habe Angst, dass ich Papa enttäuscht habe und es ihm wegen mir wieder schlechter geht.“ Diese Aussage zeigt, wie schwer der Vater noch immer auf den Schultern des kleinen Mädchens lastet. Der Papa ist immer wichtiger als sie selbst. Das ist typisch für parentifizierte Kinder, wie sie in der Fachsprache heißen. Es kommt zu einer nicht förderlichen Umkehr der Eltern-Kind-Rolle. Die Kinder fühlen sich für das Seelenheil der Eltern verantwortlich – statt umgekehrt.

80 Prozent der fremduntergebrachten Kinder traumatisiert

Stella ist mit ihrem Schicksal nicht alleine – laut einer Studie sind 80 Prozent der fremduntergebrachten Kinder traumatisiert.
Etwa die Hälfte von ihnen haben in ihren Herkunftsfamilien Grenzüberschreitungen und Missbrauchssituationen erlebt. Dr. Matthias Luther, Oberarzt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel (UPK), sagt: „Viele Kinder in der Heimerziehung haben in ihren frühen Beziehungen zu Bindungspersonen traumatische Erfahrungen gemacht. Sie haben ihre primäre Bezugsperson beispielsweise als unsicher, übergriffig und unberechenbar erlebt.“

Verlässlichkeit und Sicherheit bieten

Stella Verlässlichkeit und Sicherheit bieten – das ist das oberste Ziel des Sozialpädagogen, der Stella betreut. Nachdem die Kinderdorfmutter ihn angerufen hat, kommt der Pädagoge in die Familie, um beruhigend auf das Mädchen einzuwirken. „Meine Aufgabe ist es, ihr schrittweise dabei zu helfen, die Last der Verantwortung für ihren Vater loszulassen. Ich helfe ihr dabei, dass sie sich die innere Erlaubnis geben kann, an sich zu denken.“ Er fragt sie dann: Was denkst du, wenn du nur an dich denkst? Und nicht an den Vater? Was sind deine Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche – und nicht die deines Vaters?
Zum Wohle des Kindes pflegt der Pädagoge auch einen engen Kontakt zum Vater. Noch bevor Stella ins Kinderdorf kam, wurde der Sozialpädagoge ihrem Vater als zuständiger Fachdienstmitarbeiter vorgestellt, der künftig nicht nur Stella, sondern auch ihm zur Seite steht. Der Sozialpädagoge ist bei den jährlichen Hilfeplangesprächen dabei, an dem in der Regel die Eltern, die Sorgeberechtigte, die Kinderdorffamilie, der Fachdienst und das Kind beteiligt sind. Dabei wird über die bisherige Entwicklung des Kindes gesprochen und der Kontakt zu den Eltern, weiteren Angehörigen und wichtigen Bezugspersonen festgelegt.

Zusammenarbeit mit der Herkunftsfamilie: ernst nehmen und nicht verurteilen

Ein ganz entscheidender Faktor dafür ist die Art der Zusammenarbeit mit der Herkunftsfamilie. Ganz wichtig ist es, die Eltern nicht an den Pranger zu stellen, sondern mit Empathie auf sie einzugehen und damit Hemmschwellen abzubauen. „Es geht nicht darum, dass man das, was sie dem Kind womöglich angetan haben, zu entschuldigen“, sagt der Pädagoge. Es gehe vielmehr darum zu verstehen, wie es so weit kommen konnte, und den Eltern jetzt die Chance zu geben, etwas Gutes für ihr Kind zu tun.
Dafür ist viel Fingerspitzengefühl nötig, weiß er. „Wenn Eltern wie Stellas Vater gegenüber SOS-Kinderdorf anfänglich misstrauisch sind, erklären wir ihnen immer wieder, welche Rolle wir haben: dass wir den Auftrag vom Jugendamt haben, das Kind zu betreuen. Wir entscheiden aber nicht, dass das Kind zu uns kommt – wir sind nur bereit, es aufzunehmen. Die Entscheidung trifft der Sorgeberechtigte: wenn die Eltern das Sorgerecht nicht haben, dann ein Vormund oder ein Familiengericht.“ Mit Erklärungen wie diesen baut der Sozialpädagoge Hemmschwellen ab. „Es geht darum, dass die Eltern erkennen, dass SOS-Kinderdorf nicht der Gegner, sondern ein Verbündeter ist.“
*Name, Abbildungen und biografische Details zum Schutz der realen Personen geändert.

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