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Nicht ohne meine Geschwister

Werden Kinder vom Jugendamt in Obhut genommen, müssen Geschwister oft getrennt untergebracht werden – für sie eine zusätzliche Belastung in einer ohnehin traumatischen Situation. Um solche Trennungen zu verhindern, hat SOS-Kinderdorf in Bremen das Geschwisterhaus eröffnet, eine Inobhutnahmestelle, die ganz auf die Bedürfnisse von Geschwistern ausgelegt ist.
Zwischen Nellys* altem und neuem Leben lagen nur wenige Stunden. Stunden, in denen das Jugendamt entschied, dass die 13-Jährige und ihre drei jüngeren Geschwister bei ihren Eltern nicht mehr sicher waren. Nelly, ihre achtjährige Schwester und ihre vier und zwei Jahre alten Brüder waren in Obhut genommen worden. Eine Maßnahme, die den Behörden als eine Art schnelle Krisenintervention dient, wenn Kinder durch Gewalt, Vernachlässigung oder andere Faktoren in ihren Familien akut in ihrem Wohl gefährdet sind.

Leiden im Verborgenen

Jahrelang litten Nelly und ihre Geschwister unbemerkt. Die Eltern sind drogenabhängig und waren mit der Versorgung der Kindern mehr als überfordert. Die Wohnung der Familie war verdreckt. Geregelte Mahlzeiten gab es nicht. Die Eltern stritten sich viel. Immer wieder kam es dabei zu Handgreiflichkeiten. Manchmal verschwanden beide für mehrere Tage und überließen die Kinder sich selbst.  
Schon früh hatte Nelly die Versorgung ihrer jüngeren Geschwister übernommen, wechselte Windeln, fütterte sie. In der Schule versuchte sie, so gut es ging, die Zustände bei sich zu Hause geheim zu halten. Erst als Nellys Vater von der Polizei beim Dealen erwischt wurde, kam heraus, wie es ihr und ihren Geschwistern wirklich ging.

Zu oft werden Geschwister getrennt

Wenn Kinder aus ihrer Familie genommen werden müssen, weil ihr Wohl gefährdet ist, kommen sie vorerst in eine sogenannte Inobhutnahmestelle. Eine Übergangszeit, in der geklärt werden soll, wie es für die Kinder am Besten weitergeht. Können sie zu den Eltern zurück, wenn diese bestimmte Auflagen erfüllen, oder ist eine dauerhafte Unterbringung in einer stationären Einrichtung, einer Pflegefamilie oder einer Wohngruppe die bessere Alternative? Diese Klärung liegt beim zuständigen Jugendamt.
Platzmangel und Zeitdruck bei der Unterbringung können dazu führen, dass Geschwister dann getrennt untergebracht werden – oft monatelang, bis geklärt ist, wies es mit ihnen weitergeht. „Eine Inobhutnahme ist gerade für kleinere Kinder ohnehin schon purer Stress. Wenn sie dann auch noch von ihren Geschwistern getrennt werden, ist auf einen Schlag ihr ganzes Gefühl von Sicherheit verloren“, erklärt Dr. Lars Becker, Leiter des SOS-Kinderdorfs Bremen.
Doch Nelly und ihre Geschwister hatten Glück: sie kommen in das SOS-Geschwisterhaus Bremen. Eine Inobhutnahmestelle, die für größere Geschwistergruppen ausgelegt ist – und damit eine von nur zweien in Deutschland. „Der Bedarf für eine solche Einrichtung war und ist auf jeden Fall groß“, berichtet Dr. Lars Becker.

Sicherheit und Geborgenheit

Sicherheit und ein Gefühl von Geborgenheit soll das Geschwisterhaus vermitteln. Jedes Kind hat sein eigenes Zimmer, in das es sich zurückziehen kann. „Die Zimmer haben aber auch Ausziehbetten, falls die Kinder zusammen schlafen wollen“, erklärt der Dr. Lars Becker. Auch Nelly und ihre Geschwister hatten die erste Nacht in einem Zimmer verbracht. Knapp einen Monat ist das her. Seitdem haben sich die Geschwister in ihrer neuen Umgebung eingelebt, auch wenn es ihnen am Anfang schwer fiel.

Langsame Eingewöhnung

Einer der 18 pädagogischen Mitarbeiter im Geschwisterhaus ist Sören Graalmann. Er erklärt, dass bei vielen Kindern durch die große emotionale Belastung erst einmal eine Phase der Wut und Angst komme. Eines hätten aber alle Kinder zu Anfang gemeinsam: „Sie wollen alle wieder nachhause“, schildert Andreas Nickolaus, auch Pädagoge im Geschwisterhaus, „denn egal wie schlimm es da war, sie kennen ja nichts anderes.“ Auch die Loyalität gegenüber den Eltern sei deshalb trotz allem groß.

Neues Vertrauen fassen

Gerade Kinder, denen Vernachlässigung widerfahren ist, seien Erwachsenen gegenüber oft misstrauisch, so Andreas Nickolaus. Hier muss erst einmal Vertrauen aufgebaut werden. Nelly bereitete in ihren ersten Tagen und Wochen im Geschwisterhaus vor allem der Gedanke Bauchschmerzen, dass ihren jüngsten Bruder plötzlich jemand anderes füttern sollte. „In solchen Fällen, lassen wir die Älteren bei solchen Dingen einfach dabei sein, machen sie zusammen und fragen auch nach Tipps“, erzählt Andreas Nickolaus. Auch Nelly hat so mit der Zeit Vertrauen aufgebaut. Inzwischen kann die 13-Jährige Aufgaben viel besser abgeben – eine große Entlastung, denn die Rolle der Ersatzmutter war für sie anstrengend.

Wie die Inobhutnahme zur Chance wird

Da das Geschwisterhaus eine Inobhutnahmestelle ist, bleiben die Kinder auch hier im Schnitt nur etwas mehr als einen Monat. Trotzdem sei ihre Arbeit wertvoll, findet Sören Graalmann: „Im Idealfall ist das Geschwisterhaus ein Ort, an dem die Kinder zusammen zur Ruhe kommen können, während die beste Lösung für sie gefunden wird.“
Auch für Nelly, ihre Schwester und die Brüder geht die Zeit im Geschwisterhaus langsam zu Ende. Und tatsächlich scheint die Inobhutnahme für die Geschwister die Chance auf einen Neustart zu sein. Die Mutter der Kinder hat sich inzwischen vom Vater getrennt und sucht einen Platz in einer Entzugsklinik. Noch aber, so hat es das Familiengericht entschieden, ist die Situation zu Hause zu instabil, um Nelly und ihre Geschwister wieder dort leben zu lassen. Deshalb werden die Geschwister in wenigen Wochen in eine Kinderwohngruppe umziehen. Die Mutter können sie weiterhin regelmäßig sehen. Für die Geschwister aber mindestens genauso wichtig: Auch in der Wohngruppe können sie weiterhin zusammenbleiben.
* Name und Details zum Schutz der Privatsphäre geändert.

Das Geschwisterhaus Bremen

Das Geschwisterhaus in Bremen gibt es nun seit Juni 2020. Zehn Kinder zwischen zwei und zwölf Jahren finden hier vorübergehend ein neues Zuhause.

Mehr über das SOS-Kinderdorf Bremen

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