Wenn bei einem Familienmitglied, Freund, etc. eine Essstörung vermute, wie verhalte ich mich?
C. Frauenholz: Die Wahrheit ist der größte Feind einer jeden Sucht. Es ist immer gut, die Augen nicht zu verschließen, sondern den Betroffenen anzusprechen. Ich würde das immer unter vier Augen machen. Es ist nicht gut, wenn mehrere auf den Betroffenen einreden. Man könnte dem Betroffenen seine Beobachtungen schildern, sagen, dass man sich Sorgen macht und nachfragen, was los ist. Da es viel Überwindung kostet über eine Essstörung zu sprechen, ist Verständnis das wichtigste. Und am besten ist es, wenn man dann anbietet zusammen zur Beratungsstelle zu kommen. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass der Betroffene erst einmal nicht so offen reagiert. Dann sollte man denjenigen immer wieder mal mit viel Feingefühl darauf ansprechen, aber nicht zu aufdringlich werden.
Kann man als Freund oder Familie den Betroffenen selbst retten?
C. Frauenholz: Ich bin der Meinung, dass man sich professionelle Hilfe holen muss. Eine Essstörung kann man nicht selbst heilen. Dafür ist die Erkrankung viel zu schwerwiegend. Es geht nicht nur darum, wieder richtig essen zu lernen, sondern auch herauszufinden, was die Essstörung ausgelöst hat. Das können ganz unterschiedliche Gründe sein, wie familiäre Gründe, ein Mangel an Selbstliebe und Selbstakzeptanz oder sogar eine genetische Veranlagung für Suchterkrankungen. Wenn man gesund werden möchte, muss man die Ursachen der Essstörung bearbeiten.
Wie geht es weiter, wenn Angehörige oder Betroffene zu Ihnen kommen?
C. Frauenholz: Wir vereinbaren einen Beratungstermin und machen uns ein Bild davon wie stark die Essstörung ausgeprägt ist und was die Gründe sind. Zusammen mit den Betroffenen erarbeiten wir dann einen Weg aus der Essstörung, ob beispielsweise eine ambulante Therapie oder doch ein Klinikaufenthalt besser ist. Wenn die Angst vor einer Therapie noch zu groß ist, ist es unsere Aufgabe die Therapieängste zu verringern.
Wie verschafft man sich ein realistisches Bild von der Krankheit, wenn man mit dem Betroffenen spricht?
C. Frauenholz: Das ist sehr unterschiedlich. Betroffene, die von den Eltern zu uns „geschleppt“ werden, untertreiben meistens und sehen auch nicht, dass sie krank sind. Hier geht es dann wirklich darum langsam eine Krankheitseinsicht zu erarbeiten und den Betroffenen zu vermitteln, dass eine Essstörung eine schwere ernstzunehmende Erkrankung ist, an der jede sechste Betroffene stirbt.
Es gibt aber auch Menschen, die sich nicht sicher sind, ob sie eine Essstörung haben, und das abklären wollen. Und manche Betroffenen sind sich dessen Bewusst, dass sie an einer Essstörung leiden und suchen aktiv Hilfe. Das ist natürlich die beste Voraussetzung für uns.
Wie lange dauert eine Therapie im Schnitt?
C. Frauenholz: Der durchschnittliche Heilungsweg ist zwischen drei und fünf Jahren. Das ist eine lange Zeit. Die Eltern unserer Elterngruppe sind dann immer geschockt und denken, dass doch bereits nach drei Monaten eine Besserung eingesetzt haben sollte. Allerdings muss man das Verhalten ändern. Man muss Dinge, oft auch traumatische Erlebnisse, aus der Vergangenheit aufarbeiten – und das dauert. Was die Essstörung an dieser Stelle auch von anderen Süchten abhebt: bei anderen Süchten kann man den Suchtstoff einfach weglassen, beispielsweise bei der Alkohol- oder Drogensucht. Das Essen kann man nicht weglassen. Man muss die Angst vor dem Essen abbauen, sich Schritt für Schritt an eine genussvolle Ernährung annähern und wieder auf sein Körpergefühl hören. Jeder, der wirklich möchte, findet seinen Weg gesund zu werden.