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SOS-Fachtagung 2016

Migration als Thema in der Kinder- und Jugendhilfe

Das neue Wir in der Migrationsgesellschaft
Wie das Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft gelingen kann und welche integrativen Möglichkeiten die Kinder- und Jugendhilfe in diesem Feld hat, war Thema der Jahrestagung des SOS-Kinderdorf e.V. am 10. und 11. November 2016 in Berlin. Empirische Erkenntnisse und Überlegungen rund um Fragen von Identität, Familie, Bildung, Zuschreibung und Marginalisierung in den Städten wurden präsentiert. Fachkräfte aus der Praxis stellten ihre Erfahrungen und Ansätze vor. Eine eigens für die Tagung erarbeitete Ausstellung zeigte eine Fülle von Konzepten und Initiativen zum Thema aus unterschiedlichen Arbeitsfeldern. Für Überraschung und Unterhaltung sorgte der Auftritt der Kabarettistin und ehemaligen Sozialarbeiterin Idil Baydar. Durch die überspitzte Darstellung ihrer Kunstfigur Jilet Ayse führte sie den rund 100 Fachvertreterinnen und -Vertretern vor Augen, wie sich ein Migrationshintergrund auf persönliche Sichtweisen und Haltungen auswirkt.
Leben mit Migrationshintergrund
Einen Migrationshintergrund zu haben, kann sehr Verschiedenes bedeuten: bewusst zugezogen oder geflüchtet zu sein, über eine eigene Einwanderungsgeschichte zu verfügen oder in Deutschland geboren zu sein usw. Die vielbeschworene Sesshaftigkeit über mehrere Generationen – „einmal Migrant, immer Migrant, Generation auf Generation“ – sei zudem ein Mythos, so Prof. Erol Yildiz von der Universität Innsbruck. Längst gebe es in Deutschland ein „selbstverständliches Zusammenleben in der Vielfalt“. Daher könne man nicht mehr von Mehrheiten und Minderheiten sprechen. Aus einer Vielzahl von Migrationsstudien ergibt sich für Dr. Sina Arnold von der Humboldt-Universität zu Berlin, dass die Lebenswelt und der Lifestyle bei Menschen mit und ohne Migrationshintergrund sehr viel ähnlicher sind als vielfach angenommen. Eine Migrationsgeschichte werde für die eigene Identität oft nicht als prägend erlebt.
Prof. Thomas Geisen von der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten zieht aus seiner Forschungsarbeit den Schluss, dass nach der Migration die Familie an Bedeutung gewinnt – besonders als Sicherheitsgeber. Strategische Überlegungen entschieden dann, wie die Familie als Ressource genutzt werde. Beispielsweise seien viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, um von hier aus für ihre Familien zu sorgen. Durch Schule und Jugendhilfe seien sie jedoch für Jahre von einer Erwerbstätigkeit ausgeschlossen.
Mit familiären Aspekten befasst sich auch Prof. Merle Hummrich von der Europa-Universität Flensburg. Aus einem etablierten Blickwinkel sei Familie ein anerkannter Bildungsort, im Hinblick auf Familien mit Migrationserfahrung oder in Armutslagen kehre sich dieser Blick aber oft um. Dabei gebe es bei einer Mehrzahl von Familien mit Migrationsgeschichte bildungsfördernde Faktoren, etwa die Wertschätzung von Schule, eine hohe Bildungsaspiration, emotionale Unterstützung und die Vermittlung von Handlungssicherheit.
Der Migrationshintergrund wirkt
Laut Prof. Geisen werden an Migrantinnen und Migranten oft Erwartungen nach Kontakt und Anpassung gestellt, die Einheimische selbst nicht erfüllen. Zu beobachten sei außerdem eine wertende Unterscheidung zwischen Migration (eher problematisch, braucht Integrationsmaßnahmen, ist geprägt vom Festhalten an Traditionen) und Mobilität (verstanden als Ressource und Zeichen von Modernität). Dabei machten es beide Situationen notwendig, sich sozial neu zu verankern, und in beiden Fällen bestehe die Motivation in der Verbesserung der eigenen Lebenssituation. Im Widerspruch dazu würden Neuankommende oft zu passiven Hilfeempfängern gemacht, so Prof. Wolfgang Schröer von der Stiftung Universität Hildesheim. Mit Nachdruck verwies er auf eine Studie von Vicky Täubig zum Umgang mit Asylberechtigten, die von einer „organisierten Desintegration“ durch das Hilfesystem spricht.
Es gibt reichlich Unterschiede zwischen Menschen. Nach Prof. Schröer werden diese aber nur dann relevant, wenn sie mit dem Zugang zu Ressourcen verbunden sind. Im Falle des Migrationshintergrundes sind die Unterschiede zudem überlagert von Zuschreibungen und Stereotypen. Wie Dr. Arnold feststellt, gibt es in Deutschland ein Nebeneinander von gewachsener Pluralität einerseits und zunehmender Polarisierung andererseits: Diversitätsbewusste Einstellungen stehen „Prozessen der Schließung“ (Rechtspopulismus, Suche nach eindeutigen Zugehörigkeiten) gegenüber. Viele Jugendliche erlebten das Paradox, zu Fremden erklärt zu werden, obwohl sie nie in den sogenannten Herkunftsländern waren. Eine Form, auf diese Zuschreibungen zu reagieren, sei die „Selbstethnisierung“. Auf der Bühne illustrierte Idil Baydar dies in der Rolle von Jilet Ayse, einem aus Zuschreibungen geformten „Integrationsalptraum“: „Ich bin türkischer aus der Schule rausgekommen, als ich reingegangen bin. Als Rache verhunzen wir jetzt so richtig die deutsche Sprache, und dann gehe ich ins Ausland und sage: ‚Ich komme aus Deutschland.‘“
Prof. Yildiz zufolge steht uns der Identitätsbegriff in der Diskussion um Integration in mancherlei Hinsicht im Weg, da er Eindeutigkeit suggeriert, obwohl unsere heutige Lebenswelt von Uneindeutigkeit bestimmt ist. Insbesondere viele junge Menschen hätten sogenannte „hybride Identitäten“; sie gingen spielerisch und situativ mit kulturellen Bezügen um. Diversität müsse in einer optimistischen Haltung als eine unvermeidliche politische und institutionelle Gestaltungsaufgabe anerkannt werden. Für das Verstehen von Lebenspraxen und eine Verständigung in der Migrationsgesellschaft seien allerdings viele der aktuell genutzten Begriffe (beispielsweise Migranten, Kultur, Integration) ein Hindernis, denn sie fokussierten unsere Wahrnehmung zu einseitig: „Eine Art des Sehens ist immer auch eine Art des Übersehens.“
Aufgaben und Potential der Kinder- und Jugendhilfe
Wie Alexander Laviziano in seinem Workshop zur Kommunikation und Wahrnehmung in einer Gesellschaft der Vielfalt betonte, ist die Kinder- und Jugendhilfe hinreichend interkulturell, wenn die Fachkräfte emanzipatorisch, selbstreflexiv und respektvoll agieren. Eine emanzipatorische Sozialarbeit sei dementsprechend angewiesen auf politische Bewusstseinsbildung und das Wahrnehmen diskriminierender Erfahrungen. Eine Teilnehmerin formulierte diese Anforderung für sich so: „Begegne mir als Mensch ohne Vorurteile, aber vergiss dabei nie, dass unsere Begegnung auch gesellschaftlich und politisch gerahmt und beeinflusst ist.“
Seyran Bostanci vom Institut für den Situationsansatz in Berlin (ISTA)/Fachstelle Kinderwelten stellte mit der Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung einen zeitgemäßen und breiten Vielfaltsansatz vor. Eine wichtige Rolle spielt hierbei die eigene Differenzerfahrung, also die Erfahrung, sich selbst schon einmal fremd gefühlt zu haben. Auf dieser Basis lassen sich Diskriminierungserfahrungen, aber auch Vorurteile von Kindern und Jugendlichen bearbeiten.
Für das Ankommen in einer neuen Heimat sind Unterstützer und Vorbilder wichtig. Von ihnen können Kinder und Jugendliche auch lernen, dass Zuschreibungen nicht angenommen werden müssen und dass die Bezüge der eigenen Identität sehr vielfältig aufgefächert sein können. Fachkräfte mit Migrationshintergrund gibt es immer noch selten. Eine eigene Migrationserfahrung wirke jedoch nicht automatisch als Integrationsmotor, so Dr. Kameran Bisarami vom Rauhen Haus in Hamburg. Entgegen der eigenen Lebenserfahrung würden mitunter kulturelle Stigmata einseitig herausgestellt, um sich zu solidarisieren.
In einer Sozialraumstudie hat Prof. Gaby Straßburger von der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin folgende Teilhabebarrieren herausgearbeitet: mangelnde Lebensweltorientierung der Angebote, eingeschränkte oder entmutigende Erfahrungen mit der Kinder- und Jugendhilfe und fehlendes Vertrauen in mainstream-orientierte Angebote. Die Sozialraumorientierung müsse in marginalisierten Stadtteilen (nicht nur im Umgang mit Migranten) Menschen zu Mitgestaltern sozialer Angebote machen. Sebastian Kurtenbach von der Universität Bielfeld forscht als ehemaliger Sozialarbeiter in Stadtteilen mit überproportionalem Migrantenanteil und hebt das Potential segregierter Orte hervor: Als „Durchlauferhitzer“ unterstützten die Strukturen und Netzwerke (etwa migrantische Ökonomien, bezahlbare Wohnungen, soziale Treffs) Menschen dabei, sich neu zu beheimaten. Die Ankunftsgebiete seien aber auf die Leistungen Sozialer Arbeit angewiesen, um nicht zu Sackgassen zu werden.