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Jugendberufshilfe

Gemeinsames Fallverständnis in der Jugendberufshilfe

Berufsorientierung, Ausbildung und Berufseinstieg sind für die meisten jungen Menschen mit großen Entwicklungsschritten verbunden. Neben der Aneignung von Wissen, Fertigkeiten und sozialen Kompetenzen gilt es, sich persönlicher Fähigkeiten und Neigungen bewusst zu werden, Vorstellungen von der eigenen beruflichen Zukunft zu entwickeln, Verantwortung zu übernehmen und Übergänge zu gestalten. Für Jugendliche mit psychischen Belastungen sind diese Schritte auf dem Weg in ein eigenständiges Leben besonders herausfordernd.
Die Jugendberufshilfe des SOS-Kinderdorf e.V. will benachteiligte junge Menschen auf dem Weg in den Beruf gut begleiten und sie bei der Bewältigung der damit verbundenen Entwicklungsaufgaben unterstützen. In der Verbundeinrichtung SOS-Kinderdorf Nürnberg reichen diese Hilfen von niedrigschwelligen Aktivierungsmaßnahmen über berufsvorbereitende Maßnahmen bis hin zur Ausbildung in den Werkstätten des SOS-Berufsausbildungszentrums oder in Kooperation mit externen Betrieben. Die spezifischen Anforderungen, vor denen berufsbildende Einrichtungen stehen, greift der SOS-Kinderdorf e.V. in seinem Qualifizierungsprogramm zum Umgang mit psychisch belasteten Jugendlichen durch gezielte Unterstützungsangebote für die Fachkräfte in diesem Arbeitsfeld auf.

Eine veränderte Klientel stellt höhere Anforderungen an die Fachkräfte

Der Arbeitsmarkt in Süddeutschland hat sich in den letzten Jahren deutlich verbessert, sodass viele Jugendliche mittlerweile den Einstieg in eine reguläre Ausbildung schaffen. Dies hat Auswirkungen auf die Jugendberufshilfe. „Durch die positive Entwicklung am Markt hat sich unsere Klientel verändert. Wir arbeiten heute überwiegend mit jungen Menschen, die starke persönliche Beeinträchtigungen mitbringen“, betont Einrichtungsleiterin Bärbel Bebensee. Statt der Ausbildungsangebote für einen bestimmten Beruf besuchen sie zunehmend die niedrigschwelligen Aktivierungsmaßnahmen der SOS-Einrichtung.
Dementsprechend geht es für die Ausbilder, Fachlehrer und Sozialpädagogen in der Jugendberufshilfe immer mehr darum, die Jugendlichen persönlich zu stabilisieren, ihnen Grundfertigkeiten wie Disziplin und Pünktlichkeit zu vermitteln und sie zum Teil erstmals an einen geregelten Tagesrhythmus und an die Arbeitswelt heranzuführen. Auch wenn bei der Aufnahme in die Jugendberufshilfe keine Diagnostik vorgesehen ist, zeigt sich im Kontakt mit den Jugendlichen, dass viele von ihnen auch psychische Belastungen bzw. Erkrankungen mitbringen. 
Das können soziale Ängste sein, Substanzmittelabhängigkeiten, Computerspielsucht, Depressionen oder posttraumatische Belastungsstörungen, die sich in Form von mangelnder Impulskontrolle, Aggressionen oder auch Schlafstörungen und Konzentrationsschwierigkeiten äußern. Häufig erscheinen die jungen Menschen zu spät oder gar nicht in der Berufsvorbereitung oder im Förderunterricht.
Angesichts dieser veränderten Situation stellt Bebensee fest, dass sich die Arbeit der Fachkräfte intensiviert hat und dass es anspruchsvoller geworden ist, die jungen Menschen pädagogisch zu begleiten. Vor diesem Hintergrund sei das SOS-Qualifizierungsprogramm* auch so wichtig für die Nürnberger Einrichtung: „Die Jugendlichen, die uns das Jobcenter vermittelt, fordern uns mit allem, was wir können, und auch mit einigem, was wir uns noch erarbeiten müssen.“
Zudem ziehen sich die Kostenträger immer mehr aus der Verantwortung zurück und schreiben tendenziell kürzere, maximal sechs- bis achtmonatige Maßnahmen aus. „Der pädagogische Ansatz von SOS-Kinderdorf basiert aber auf Beziehungsarbeit“, so Bebensee.
„Um jungen Menschen durch verlässliche, tragfähige Beziehungen Entwicklungsmöglichkeiten bieten zu können, haben wir bis vor kurzem nur Maßnahmen ab zwölf Monaten angeboten. Leider müssen wir inzwischen auch kompaktere Angebote in unser Portfolio aufnehmen.“

Stabilisierung für psychisch belastete Jugendliche

Das Ziel von niedrigschwelligen Maßnahmen wie den beruflichen Aktivierungshilfen ist es, die Einzelnen intensiv zu fördern und auch kleine Erfolge wahrzunehmen und zu honorieren. „Das erfordert viel Zeit und Geduld“, bemerkt Bianca Winkler, Sozialpädagogin im Ausbildungsbereich Metall sowie in berufsvorbereitenden und niedrigschwelligen Maßnahmen. Ein Entwicklungsschritt kann so aussehen, dass ein Teilnehmender sich telefonisch abmeldet, wenn er nicht kommen kann, anstatt einfach fernzubleiben, oder dass jemand es schafft, um 10 Uhr in der Einrichtung zu sein statt – wie bisher – um 15 Uhr. „Es geht darum, die Jugendlichen zu motivieren, ihnen immer wieder aufzuzeigen, was sie davon haben, wenn sie es schaffen, und sie zu bestärken, wenn sie einen Schritt weitergekommen sind“, so die Sozialpädagogin. Wenn über einen längeren Zeitraum trotz intensiver Unterstützung kein Fortschritt erkennbar ist, gilt es, die Perspektiven nochmals zu überprüfen und die jungen Menschen ggf. in eine alternative Maßnahme oder Hilfe zu vermitteln.
In den Fallbesprechungen kann es durchaus vorkommen, dass Ausbilderinnen, Förderlehrer und Sozialpädagoginnen die Entwicklung von Jugendlichen unterschiedlich einschätzen und bewerten. Der Ausbilder nimmt zum Beispiel wahr: „Der Jugendliche kommt nie pünktlich in die Werkstatt, so wird er seine Ausbildung nicht schaffen.“ Seine Perspektive bezieht insbesondere die realen Anforderungen der Berufswelt ein. Die Sozialpädagogin dagegen meint: „Wunderbar, er kommt jetzt jeden Tag um 10 Uhr statt um 15 Uhr – ein großer Fortschritt!“ – „An solchen Punkten zu einem gemeinsamen Verständnis und zu Entscheidungen zu kommen, ist für ein multiprofessionelles Team manchmal sehr herausfordernd, aber unerlässlich“, findet Bebensee.

Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Fallverständnis

„Der Verstehensansatz aus dem Qualifizierungsprogramm hat uns in dieser Hinsicht weit vorangebracht“, so Winkler. „Eine Methode, die wir in unseren Fallbesprechungen jetzt regelmäßig einsetzen, ist die ‚Weil-Fragerunde‘. Wenn ein junger Mensch ein bestimmtes Verhalten zeigt und mir nichts mehr einfällt, wie ich noch reagieren oder intervenieren könnte, bringe ich diesen Fall ein. Beispielsweise:
Die Teilnehmerin XY kommt normalerweise immer pünktlich, nur donnerstags nicht. Das Team sammelt dann Ideen: ‚Sie kommt donnerstags immer erst ab 11 Uhr, … weil sie am Abend vorher arbeiten muss, … weil sie vielleicht ihre Mutter ins Krankenhaus fahren muss, … weil sie auf ihre Schwester aufpassen muss‘ etc. Auf der nächsten Ebene werden gemeinsam weitere Hypothesen gebildet: ‚Die Jugendliche muss an dem Tag immer auf ihre Schwester aufpassen, weil …‘. Schließlich steht eine These im Raum, auf die ich selbst nie gekommen wäre, von der ich aber denke: Genau das könnte es sein.“
Bebensee schätzt an diesem Verfahren insbesondere die entlastende Komponente: „Wenn ich als Mitarbeiterin oder Mitarbeiter im Alltag immer wieder mit einem Verhalten konfrontiert bin, das mich unheimlich nervt, dann nehme ich das schon mal persönlich. Aber in dem Moment, wo ich eine Runde einberufe und einen Schritt zurück trete, kann ich die Situation wieder sachlicher betrachten.“

Wie die Methoden aus dem Programm in der Praxis wirken

Die gemeinsame Fallarbeit stärkt auch das Vertrauen zwischen den Kolleginnen und Kollegen verschiedener Professionen. Ziel ist es, die unterschiedlichen Sichtweisen zusammenzuführen und die Teilnehmenden durch das gemeinsame Wissen und das erweiterte Verständnis bestmöglich zu unterstützen. Bereichsleiter Wolfgang Lutz freut sich, dass Methoden wie die kollegiale Beratung wieder einen festen Platz im Einrichtungsalltag einnehmen und die fachliche Arbeit voranbringen.
Zusammen mit den anderen Multiplikatoren aus der Steuerungsgruppe sorgt Lutz für die Verstetigung der Anregungen aus dem Qualifizierungsprogramm. Benjamin Gall, Sozialpädagoge und Ausbilder, ergänzt: „Wir haben einen konkreten Projektplan aufgestellt, um die Modulinhalte systematisch im jeweils folgenden Halbjahr in unserer Einrichtung umzusetzen. So haben wir schon eine Kick-Off-Veranstaltung und ein Inhouse-Seminar mit einer Trauma-Pädagogin organisiert und verankern nach und nach Methoden wie die kollegiale Fallberatung in unseren Strukturen.“
Dass die Fortbildungsformate zu mehr Handlungssicherheit und Offenheit führen, ist in allen Bereichen des Berufsausbildungszentrums spürbar. So ist etwa in den Werkstätten eine größere Bereitschaft entstanden, Ausbildungsinhalte näher an den Bedürfnissen und Erfahrungen der jungen Menschen auszurichten. Statt der üblichen mechanischen Bauteile fertigen die Jugendlichen nun auch mal Flugobjekte an, die sie interessanter finden und dazu motivieren, sich zu beteiligen.
Bebensee begrüßt insbesondere, dass die gesamte Mitarbeiterschaft sich durch das Programm fachlich weiterentwickelt: „Der große Wurf ist für mich, dass wir gemeinsam eine Sprache, einen Wissensfundus und eine Methodenvielfalt entwickeln. Unser Ziel ist es, weiterzukommen, vom Handwerksausbilder hin zum Werkstattpädagogen, von der klassischen Bildungs- und Ausbildungsarbeit hin zum pädagogischen Arbeiten. Das ist das Versprechen, das ich gerne eingelöst sehen möchte. Und da sind wir, auch dank der Verbindlichkeit dieses Programms, auf einem guten Weg.“
* Qualifizierungsprogramm zum Umgang mit psychisch belasteten Jugendlichen in berufsbildenden Angeboten