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Handlungsbefähigung entwickeln

Auf dem Weg in ein eigenständiges Leben

Als Care-Leaver werden junge Menschen bezeichnet, die die stationäre Jugendhilfe verlassen haben. Dem Ende der Unterbringung geht ein Prozess des Selbstständigwerdens voraus, der schon lange vor dem Auszug beginnt. Dr. Kristin Teuber, Leiterin des Sozialpädagogischen Instituts (SPI) des SOS-Kinderdorf e.V., erläutert aus wissenschaftlicher Sicht, was junge Menschen für einen guten Übergang in ein eigenständiges Leben brauchen und welche Faktoren sich positiv darauf auswirken, als junge Erwachsene Fuß zu fassen. Im Gespräch gibt die Psychologin Einblick in Erkenntnisse aus der „SOS-Längsschnittstudie zur Handlungsbefähigung junger Menschen auf dem Weg in die Eigenständigkeit“ und zeigt deren Bedeutung für die pädagogische Praxis auf.
Was kennzeichnet den Prozess des Leaving Care aus der Perspektive der Praxisforschung?
Zunächst ist wichtig, die Verselbstständigung tatsächlich als einen Prozess zu verstehen, der sich über viele Jahre erstreckt. Entwicklung hat insgesamt sehr viel mit dem Selbstständigwerden zu tun – schon in den frühen Jahren des Aufwachsens, auch in einer stationären Betreuung. Jugendliche haben die Entwicklungsaufgabe zu bewältigen, sich von den Eltern abzulösen. Das geht Hand in Hand mit ihrer Verselbstständigung, die sich über den Auszug hinaus bis in die ersten Jahre des eigenständigen Erwachsenenlebens zieht. Es gibt ihnen Sicherheit, wenn sie bei diesem Prozess unterstützende Erwachsene an ihrer Seite wissen.
Die SOS-Einrichtungen haben unterschiedliche Konzepte für die Verselbständigung und bieten verschiedene Formen des Wohnens und der Begleitung im Übergang an. Die Bandbreite reicht von sehr durchstrukturierten Angeboten bis hin zu flexiblen Herangehensweisen. Entscheidend ist, dass jeweils im Einzelfall geschaut wird, welche Unterstützung die oder der Jugendliche benötigt. Die jungen Menschen sind die Akteure ihrer Entwicklung. Für sie ist es deshalb besonders relevant, dass sie verschiedene Optionen haben und vor allem dass sie mitbestimmen können, wie der Prozess ihres Selbstständigwerdens abläuft. Sie können nur die Schritte in die Eigenständigkeit gehen, die sie sich auch zutrauen.
Die Verselbstständigungsprozesse von Care-Leavern und Peers, die in ihrer Herkunftsfamilie aufwachsen, ähneln sich prinzipiell. Care-Leaver stehen dabei aber in der Regel unter einem erheblichen Zeitdruck, wenn sie auszuziehen haben, sobald sie 18 oder 19 Jahre alt sind. Ihnen stehen auch weniger Möglichkeiten zur Erprobung und Orientierung zur Verfügung zwischen Schule und Ausbildung bzw. Studium. Ich kenne keine Care-Leaver, die nach dem Abitur erstmal auf Reisen gegangen sind oder sich eine Auszeit genommen haben.
Was trägt dazu bei, dass Care-Leaver den Übergang in die Eigenständigkeit als positiv erleben?
Ganz wesentlich ist, dass sie Einfluss auf die Planung und Gestaltung des Übergangs und auf den Zeitpunkt des Auszugs haben. Es kommt stark darauf an, dass der Prozess transparent ist, dass die jungen Menschen wissen, was auf sie zukommt und dass mit ihnen zentrale Fragen besprochen werden, etwa: „Warum musst du jetzt ausziehen, warum geht das nicht anders?“ Aber auch: „Wie kannst du weiterhin die Unterstützung bekommen, die du brauchst?“
Wie nehmen das die Care-Leaver aus den SOS-Einrichtungen wahr?
Viele von denen, die wir befragt haben, etwa 50 Prozent, sagen, sie fühlten sich ausreichend vorbereitet, sie konnten mitsprechen und sie wurden im Übergang gut begleitet. Diese jungen Erwachsenen nehmen ihre aktuelle Lebenssituation eher positiv wahr. Sie scheinen mit einer Portion Zuversicht in die Eigenständigkeit gestartet zu sein.
Rund 30 Prozent der Befragten geben an, ihre Verselbstständigung sei nicht optimal gelaufen; sie konnten sich nicht so einbringen und mitbestimmen, wie sie es gerne getan hätten. Es sei zwar in Ordnung gewesen auszuziehen, aber sie bräuchten noch Unterstützung in einigen Lebensbereichen. Und etwa ein Fünftel gibt an, überfordert zu sein. Diese Personen haben in mehreren Lebensbereichen ernst zu nehmende Schwierigkeiten, die sie nicht allein bewältigen können. Sie benötigen erhebliche Unterstützung, um zurechtzukommen.
Was brauchen junge Menschen für den Schritt ins Erwachsenenleben?
Zur Vorbereitung auf ein eigenständiges Leben müssen die Jugendlichen natürlich viele instrumentelle Kompetenzen erwerben: einen eigenen Haushalt führen, mit Geld umgehen können oder für die eigene Gesundheit sorgen. Daneben gehört zu einer eigenständigen Lebensführung auch, eigene Beziehungen zu pflegen und sich selbst ein kleines Netzwerk aufzubauen mit Menschen, denen man sich verbunden fühlt.
Der andere Teil, den wir in der Praxisforschung unter „Handlungsbefähigung“ zusammenfassen, berührt viele Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung und die eigene Zukunftsperspektive. Es macht einen großen Unterschied, ob ich als Care-Leaver weiß, was auf mich zukommt und die Zuversicht habe, das meistern zu können. Oder ob ich das Gefühl habe: „Ich weiß nicht, was mich erwartet, und habe Angst, dass ich nicht zurechtkommen werde. Und eigentlich bin ich noch nicht bereit, allein zu leben.“ Diese Grundthemen beschäftigen im Grunde jede und jeden beim Erwachsenwerden.
Im Mittelpunkt der SOS-Längsschnittstudie steht ja die Frage, was junge Menschen befähigt, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, Perspektiven zu entwickeln und Chancen, die sich ihnen bieten, zu nutzen. Was steckt hinter dem Konstrukt der Handlungsbefähigung?
Handlungsbefähigung, wie wir sie verstehen, setzt sich aus mehreren Dimensionen zusammen. Ein Aspekt ist die Selbstwirksamkeit, also das Gefühl, im eigenen Leben etwas bewirken zu können, das für mich und andere relevant ist. Die Konsequenzen des eigenen Handelns, auch des eigenen Seins zu spüren, ist eine wichtige Grunderfahrung: Wie bin ich als Person, was erreiche ich und welche Bedeutung hat das? In dieser Hinsicht haben viele Kinder und Jugendliche im jungen Alter zu wenig positive Erfahrungen gemacht, wenn sie in prekären Verhältnissen gelebt haben.
Eine weitere wesentliche Erfahrung ist die der Zugehörigkeit. Ich brauche als Mensch die Gewissheit, dass ich irgendwo dazugehöre und gewollt bin, wo ich Anerkennung, Liebe, Orientierung bekomme. Ein ausgeprägtes Zugehörigkeitsgefühl, die Einbindung in eine Gemeinschaft, sind die Basis dafür, dass ich mich beim Erwachsenwerden Stück für Stück lösen kann. Der verlässliche Rückhalt bringt mich erst in die Lage, vorausschauen und Ideen für mein eigenes Leben entwickeln zu können.
Diese Erfahrung stärkt auch das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten und die Überzeugung, Schwierigkeiten bewältigen zu können. Entscheidend für meine Entwicklung als junger Mensch ist, dass ich eine Situation als positive Herausforderung wahrnehmen kann, also dass ich gefordert bin und die Situation auch angehen will. Dabei kommt es auf die Balance an: Niemand kann auf Dauer gut mit dem Gefühl umgehen, in vielen Bereichen überfordert zu sein. Genauso wenig möchte man dauerhaft unterfordert sein. Wir fühlen uns am besten, wenn wir mit unserem Potential angemessen gefordert sind.
Gibt es weitere Aspekte, die eine Rolle spielen?
Zur Handlungsbefähigung gehört auch ein Zusammenwirken von Faktoren, die als Kohärenzgefühl bezeichnet werden. Damit ist gemeint, dass ich als Mensch die Dinge verstehe, die mir widerfahren, dass ich darin einen Sinn sehen kann und dass ich die Herausforderungen, die das Leben an mich stellt, handhaben kann. Selbstständigwerden fängt in ganz jungen Jahren an und verläuft in kleinen Schritten. Dabei lernen Kinder und Jugendliche, Zusammenhänge zu verstehen, ihnen einen Sinn zu geben und mit Anforderungen umzugehen. Wenn sie dabei positive Erfahrungen machen, wächst ihre Zuversicht ins Leben und in die eigenen Fähigkeiten.
Was bedeutet das für die jungen Menschen, die die stationäre Jugendhilfe verlassen?
Aus unserer Praxisforschung bei SOS-Kinderdorf wissen wir, dass gerade Kinder und Jugendliche, die in die Heimerziehung kommen, ein eher schwach ausgeprägtes Kohärenzgefühl haben. Das hat mit ihrer Geschichte zu tun, mit ihren Erlebnissen und Erfahrungen. Daher muss gerade in der Zeit der Betreuung für die Kinder transparent gemacht werden, was in ihrem Leben passiert, warum sie in der Einrichtung sind und warum sie aus ihrer Herkunftsfamilie herausgenommen wurden. Sie brauchen auch die Gewissheit, dass sie keine Schuld trifft, sondern dass es andere Gründe dafür gibt. Wenn sie das Geschehene für sich einordnen und trotz aller Schmerzen annehmen können, kommen sie an ihrem neuen Lebensort an. Dabei brauchen sie die zuverlässige Unterstützung der Fachkräfte. Die Kinder und Jugendlichen machen in einer Kinderdorffamilie oder Wohngruppe oft zum ersten Mal die Erfahrung, sich beteiligen zu können, Dinge zu ihrer eigenen Sache zu machen und ihr Leben mitzugestalten. Diese Erfahrungen sind förderlich für den späteren Leaving Care-Prozess.
Woran lässt sich aus Ihrer Sicht festmachen, dass ein Leaving Care-Prozess gelungen ist?
Das ist nicht so einfach zu beantworten, schon gar nicht umfänglich. Zunächst ist der Prozess gelungen, wenn jemand insgesamt in der Selbstständigkeit zurechtkommt. Abgeschlossen ist der Prozess vielleicht dann, wenn man als Care-Leaver für sich das Gefühl entwickelt hat: „So wie ich bin und wie ich jetzt lebe, ist es in Ordnung. Ich habe eine schwierige Geschichte und jetzt lebe ich ein ‚normales‘ Erwachsenenleben. Ich fühle mich nicht von anderen stigmatisiert und sehe mich nicht als ehemaligen Hilfeempfänger mit vielen Defiziten. Ich lebe mein Leben und das ist gut so.“ Das ist natürlich sehr viel leichter gesagt, als getan.
Viele Care-Leaver sagen, sie haben es weit geschafft und sind mit ihrem Weg zufrieden. Und doch haben sie immer wieder unterschwellig die Angst: Wenn es in einem Lebensbereich schwierig wird, könnte alles zusammenkrachen – wie ein Kartenhaus. Das stimmt faktisch gar nicht unbedingt, aber sie haben ein solches Grundgefühl.
Im Umkehrschluss könnte man also sagen: Ein Leben in der Selbstständigkeit ist dann gelungen, wenn jemand dieses Grundgefühl nicht (mehr) hat, sondern wenn an dieser Stelle ein Zutrauen steht, die Zuversicht: „Wenn es an einer Stelle mal ein bisschen wackelig oder schwierig wird, dann werde ich das schon handhaben. Aber das Ganze ist relativ stabil. Und so fühle ich mich auch.“ Wenn man das von sich sagen kann, dann ist viel gelungen. Dann hat jemand eine gutes Stück Handlungsbefähigung, wie wir sie verstehen, für sich entwickelt, steht mit beiden Beinen einigermaßen fest im Leben und fühlt sich dabei recht gut und sicher. 
(Oktober 2020)

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