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Psychologische Beratung für Familien mit Fluchterfahrungen

Belastungen wahrnehmen und Ressourcen aufspüren

Anisa Saed-Yonan ist Psychologin und Psychotherapeutin. Vor gut 30 Jahren ist sie aus Syrien nach Deutschland gekommen, seitdem arbeitet sie hier mit Migranten. In der interkulturellen Beratungsstelle im SOS-Kinderdorf Berlin berät Saed-Yonan u.a. auf Arabisch, Aramäisch und Kurdisch. Das schafft Vertrauen und erleichtert vielen Menschen aus arabischen Ländern den Zugang. Etwa 70 Prozent der Familien, die derzeit zu Saed-Yonan in die psychologische Beratung kommen, haben Fluchterfahrungen.
Mit welchen Belastungen kommen geflüchtete Kinder und Jugendliche zu Ihnen?
Die Kinder haben Schlafstörungen und Ängste. In der Nacht sind sie unruhig; sie schreien, weil sie böse Träume haben. Oder sie können nicht mehr allein einschlafen. Jetzt sind sie sieben, acht Jahre alt und brauchen wieder die Nähe der Eltern, wollen in deren Bett liegen. Viele Kinder nässen seit den Kriegserlebnissen wieder ein. Manche zeigen Verhaltensauffälligkeiten oder Entwicklungsverzögerungen, oft können sie sich nur schwer konzentrieren.
Die unbegleiteten Jugendlichen haben ähnliche Symptome: Unruhe, Ängste, aber auch Trauer. Ich spüre sehr viel Traurigkeit, die auch daher rührt, dass sie allein hier sind, ohne ihre Familie. Sie kennen hier keinen Menschen. Sie waren tapfer, haben diese Reise über vier, fünf Länder gemacht und sind hier in Deutschland gelandet. Aber jetzt, wo sie zur Ruhe gekommen sind, merkt man, wie traurig sie sind.
Welche Sorgen und Belastungen bringen die Erwachsenen mit?
Die Frauen und Männer berichten von Depressionen, von Ängsten und Schlafstörungen. Natürlich auch von Konzentrationsstörungen, die für sie besonders belastend sind. Kinder können beim Spielen zumindest zeitweise abschalten. Erwachsene tun sich damit schwer. Sie leiden sehr darunter, wenn sie z.B. gerne Deutsch lernen möchten, sich aber nicht konzentrieren können, wie Herr M.: „Ich habe von meinem Integrationskurs nichts mitbekommen. Ich saß da, aber mein Kopf war in Syrien.“
Solange sie in ihrer Heimat waren, mussten sie agieren, ihre Familie und Kinder in Sicherheit bringen. Erst hier, wo sie zur Ruhe kommen, wird ihnen das Ausmaß des Problems bewusst. Viele der berufstätigen Frauen – Lehrerinnen, Direktorinnen, Ingenieurinnen oder Ärztinnen – merken hier erst so richtig, was sie verloren haben. Sie fühlen sich wertlos und leer, trauern über ihre Stellung in der Gesellschaft, über den Verlust ihrer Existenz, die sie sich aufgebaut hatten. Sie haben jahrelang gespart und Häuser gebaut. Und von einer Sekunde zur nächsten ist alles weg. Sie hatten alles im Griff, die Erziehung der Kinder, Hilfe bei schulischen Fragen, ihren Beruf. Hier haben sie das Gefühl, dass ihnen alles entgleitet. Diese Frauen brauchen neue Ziele und eine Motivation, damit sie ihre Stärken wiederfinden können.
Begegnen Ihnen Menschen, die traumatisiert sind? Woran erkennen Sie das?
Bei vielen dauert es mehrere Sitzungen, bis sie von ihren Erlebnissen erzählen können. Es gibt bestimmte Merkmale, die auf ein Trauma hindeuten. Eine sogenannte Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) kann entstehen, wenn ein Mensch einem extremen Ereignis als Opfer oder Zeuge ausgesetzt ist, etwa bei Kriegserlebnissen, wie Vertreibung, Gewalt, Entführung, Misshandlung, Vergewaltigung oder Ermordung. Durch dieses äußere Ereignis wird das seelische Gleichgewicht zutiefst erschüttert, und Angst und Erregung steigern sich ins Unerträgliche. Das menschliche Grundvertrauen, durch nahestehende Personen beschützt und in der körperlichen und seelischen Abgrenzung zur Umwelt unantastbar und sicher zu sein, geht nahezu verloren.
Die Traumatisierung ruft einen Zustand völliger Hilflosigkeit hervor, die Betroffenen fühlen sich vollkommen ausgeliefert. Ihre üblichen Verarbeitungsmechanismen funktionieren nicht mehr, Gefühle von Angst oder Trauer überwältigen sie. Sie sind „starr vor Schreck“. Tage, Monate oder auch Jahre später können minimale Erinnerungen exakt dieselben Reaktionen wieder hervorrufen.
Was können Sie in der Beratung leisten, und wie gehen Sie vor?
Aktives Zuhören ist das Wichtigste, ich frage nicht viel. Vor allem nehme ich jeden Menschen so, wie er ist, respektiere ihn und begleite ihn da, wo er steht. Das heißt, wenn jemand an einem Punkt nicht weitererzählen will, akzeptiere ich das. Man muss Geduld haben, denn traumatisierte Menschen sind aufgrund ihrer Erfahrungen oft sehr misstrauisch.
Ganz wichtig ist es, Flüchtlingskinder und ihre Familien nicht nur als Opfer wahrzunehmen. Ich versuche, sie als „Leistungsbringer“ zu definieren, als Überlebende, die es geschafft haben, einer katastrophalen Bedrohung zu entkommen, und die aktiv ihren Weg gesucht haben, um in Sicherheit zu gelangen. Es geht auch darum, sie nicht zu stigmatisieren. Es gibt nicht die Flüchtlingskinder und die traumatisierten Flüchtlinge. Jedes Kind trauert anders, so wie jedes Kind auch seine eigene Art im Umgang mit belastenden Erfahrungen hat.
Was gibt den Familien in dieser Situation Halt?
Ich versuche das Selbstwertgefühl der Geflüchteten zu stärken, frage detailliert nach, was sie in der Vergangenheit geleistet haben. Eine syrische Ingenieurin, die zu mir kam, war in ihrer Heimat beispielsweise Abteilungsleiterin und ist täglich mit dem Dienstwagen zu den Baustellen gefahren. Und wenn ich merke, wie jemand aufblüht, wenn er über die Vergangenheit spricht, versuche ich ihn zu stärken und rege an: Vielleicht könntest du das auch hier machen?! Kannst du dir das vorstellen?
Ich schaue, welche Ressourcen die Menschen mitbringen, und versuche, diese herauszuarbeiten. Oft sind sie überlagert von den belastenden Ereignissen. Das ist auch typisch, dass sich traumatisierte Menschen unfähig fühlen, alltägliche Kleinigkeiten zu erledigen, die für sie früher ganz selbstverständlich waren. Dennoch haben die Familien auch viele Fähigkeiten und Stärken entwickelt, das Leben im Krieg ließ ihnen gar keine andere Wahl.
Mit welchen Methoden arbeiten Sie in der Beratung?
Bestimmte Imaginationsübungen und Techniken können helfen, diese Bilder, die die Menschen im Kopf haben, eine Zeit lang beiseitezulassen. In der Tresor-Übung etwa sperrt man belastende Gefühle vorübergehend in einen „inneren Tresor“. Oder aber die Klienten stellen sich einen Lichtstrahl vor, der über den ganzen Körper wandert und sie wärmt. Entlastend kann es auch sein, sich in einen „sicheren inneren Ort“ hineinzufühlen, um in dem Moment emotional vor jeder Gefahr in Sicherheit zu sein.
Könnten Sie ein konkretes Beispiel geben, wie sich belastende oder traumatische Erlebnisse bearbeiten lassen?
Zurzeit kommt ein 38-jähriger Mann zu mir in die Beratung, weil er lernen will, mit seinen Aggressionen besser umzugehen. Er schreit seine Frau und seine Kinder an, und einmal ist ihm auch die Hand ausgerutscht. Die Familie wohnt in einer Gemeinschaftsunterkunft und ist seit ungefähr vier, fünf Monaten hier.
Es stellte sich heraus, dass er vor zwei Jahren, im Krieg, entführt worden war. Aber er erzählte nicht ausführlich, er war sehr misstrauisch. Das Erlebte hatte er bisher noch niemandem anvertraut. Er meinte nur, er habe Schlafstörungen, und jedes Mal, wenn er die Augen zumache, kämen böse Bilder.
Wir haben einige Übungen gemacht, die ihn ein wenig entspannten. Nach ein paar Sitzungen fragte ich ihn, ob er über die Bilder reden wolle. Davor hatte er Angst. Worauf genau sich seine Angst bezog, versuchten wir dann gemeinsam herauszufinden. Schließlich vertraute er mir an, er habe Angst um mich, weil er so brutale Sachen erlebt habe und fürchte, ich könne daran zerbrechen. Er meinte: „Wenn ich daran zerbreche, wie können die anderen nichtzerbrechen?“
Wie sind Sie mit der Situation umgegangen?
Als das Vertrauen zwischen uns gewachsen war, begann er, von seinen traumatischen Erlebnissen zu erzählen: Als Geisel hatte er Folter, Misshandlungen und Hinrichtungen mit ansehen müssen. Er wurde bedroht und erpresst: Wenn seine Familie das Lösegeld nicht zahle, würde es ihm auch so ergehen. Und dann haben sie ihm vorgeführt, was passieren würde.
Durch unsere Gespräche und auch mithilfe der genannten Übungen hat er spürbar Erleichterung gefunden. Schließlich war er dazu bereit, auch seine Frau in die Beratung mitzubringen. Ich habe ihn an einen ebenfalls arabisch sprechenden Therapeuten weitervermittelt, weil ihm ein Beratungs-Setting nicht gereicht hat. Und parallel dazu habe ich die Beratung mit dem Paar fortgeführt. Er konnte sich seiner Frau dann auch offenbaren – zwar nicht mit allem, was er gesehen hat, aber immerhin konnte er ihr von den Bildern erzählen, die ihn so bedrängt haben und nicht einschlafen ließen. Es ist dann ein Verständnis in der Familie entstanden, und der Mann hat gelernt, mit seinen Aggressionen besser umzugehen.
Wo liegen die Grenzen Ihrer psychologischen Beratung?
Ich schätze meine Belastungsfähigkeit realistisch ein und achte darauf, dass sich in der Beratung nicht zu viel vermischt. Manche, die zu mir kommen, bringen alles mit, das ganze Paket. Wir versuchen dann, die Anliegen in Päckchen zu packen und zu gucken, welche Päckchen wohin gehen – in eine Therapie, in die Sozialberatung etc. Da schaffe ich Grenzen für mich, damit die Klienten nicht alle Belastungen hier reinbringen. Denn was ich anbieten kann, ist nur eine kurzfristige Beratung, erst einmal fünf Sitzungen, manchmal auch bis zu 15 oder 20, aber in diesem Rahmen müssen wir uns auf bestimmte Themen konzentrieren. Und für die anderen Anliegen vermitteln wir die Menschen bei uns im Haus weiter, sodass sie auf allen Ebenen gut versorgt sind.