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Offene Angebote für Flüchtlingsfamilien

Erfahrungen aus der interkulturellen Arbeit des SOS-Kinderdorfs München

„Das Ziel ist, den Menschen Zugang zu unserer Lebenswelt zu ermöglichen. Und die Lebenswelt ist nicht die Gemeinschaftsunterkunft; die Gemeinschaftsunterkunft ist eine Parallelwelt.“ Yvonne Lüders leitet den Bereich der offenen Familienhilfen an vier Standorten im Münchner Osten. Schon vor zehn Jahren hat die Sozialpädagogin im SOS-Beratungs- und Familienzentrum München Flüchtlingskinder begleitet und dabei intensive Beziehungen zu ihnen aufgebaut. Diese Erfahrungen helfen ihr heute dabei, Kontakt zu Familien in Gemeinschaftsunterkünften zu knüpfen und passgenaue Angebote für sie zu entwickeln. Zugleich ist Yvonne Lüders im Sozialraum sehr gut vernetzt. Als Sprecherin des „Runden Tisches Riem“ setzt sie sich für geeignete Strukturen und bedarfsgerechte Angebote für benachteiligte Familien in der Region ein. Ein Schwerpunkt ist derzeit die Flüchtlingsarbeit.
„Es kommt darauf an, die Familien jetzt schon in unsere Strukturen im Sozialraum einzubinden, damit sie in unserem Alltag ankommen. Wenn sie dann aus den Gemeinschaftsunterkünften ausziehen und in Deutschland bleiben dürfen, sind sie hier schon gut orientiert und bewegen sich ganz normal in ihrem Stadtteil. Es geht um Befähigung und um Inklusion, genau darum, keine  Extrawelt zu schaffen für Flüchtlinge.“
Damit die Flüchtlingsfamilien den Weg in die SOS-Einrichtung finden, muss man erst einmal in die Gemeinschaftsunterkünfte gehen, die Menschen erreichen, eine gewisse Beziehung und Vertrauen aufbauen, so die Sozialpädagogin – etwa mit einem offenen Café-, Bastel- und Gesprächsangebot einmal im Monat. Dabei helfen auch Ehrenamtliche, die zum Beispiel Arabisch, Farsi oder Französisch sprechen. Bei Bedarf begleiten die Mitarbeiterinnen die Familien auch vorübergehend in das Familienzentrum, das fünf U-Bahn-Stationen von der Gemeinschaftsunterkunft entfernt ist.
Ein inklusives Konzept für die SOS-Familientreffs und -zentren im Münchner Osten
Das SOS-Familienzentrum München arbeitet mit einem sogenannten inklusiven Konzept. Statt neue Fachkräfte ausschließlich für Flüchtlingsarbeit einzustellen, regt Yvonne Lüders an, dass Mitarbeiterinnen Stunden aufstocken, wenn sie dazu bereit sind. So gehört die Begleitung von Flüchtlingen ganz regulär in das Angebot des Familienzentrums, das alle Mitarbeiterinnen mitgestalten. Das sei auch für die Pädagoginnen entlastend, weil sie sich dann gut über ihre Erfahrungen austauschen können. Zugleich unterstützt dieses Konzept das Anliegen, dass Flüchtlinge ganz selbstverständlich die Einrichtung besuchen. Dass sie als Familien, als Frauen und Männer wahrgenommen werden und willkommen sind, genau wie alle anderen auch – unabhängig davon, ob sie geflüchtet sind, ob sie einen Migrationshintergrund haben oder nicht.
Ziel der offenen Angebote in den Gemeinschaftsunterkünften ist nicht nur, sich bekannt zu machen, sondern auch mit den Familien über Erziehungsfragen in Kontakt zu kommen. Auf diesem Weg melden sich dann einige Flüchtlingsfamilien für die Gruppe „Leben in Deutschland“ an, die im Familienzentrum stattfindet. Das Konzept sieht vor, dass Migrantinnen, die schon länger in diesem Stadtteil leben und Frauen mit Fluchterfahrung gemeinsam an solchen Angeboten teilnehmen. Neben dem Erwerb der deutschen Sprache geht es darum, sich schnell im Alltag in Deutschland zurechtfinden zu können. Schwerpunkte sind alltagspraktische Dinge wie das Lesen von U-Bahn-Plänen oder die Frage, wie man Wohnungen findet und welche Berufsgruppen gebraucht werden, sowie alles, was das Leben mit Kindern in Deutschland betrifft. Die Gespräche befassen sich mit der Pflege der Kleinkinder, mit Ernährung und Gesundheit bis hin zur Frage: Wie bekomme ich denn einen Kindergartenplatz, wo muss man sich anmelden?
Die Eltern bringen ihre kleinen Kinder mit in die Gruppe. Diese werden im Nebenraum in einem „Förderkurs für Kinder“ betreut, altersgerecht gefördert und lernen dort spielerisch die ersten deutschen Wörter. Das gibt den Müttern das gute Gefühl, dass auch ihre Kinder von dem Angebot profitieren. Gleichzeitig sind die Kinder in ihrer Nähe, das ist für geflüchtete Frauen besonders wichtig.
In die offenen Angebote selbst kommen viele Frauen, die Arabisch oder Farsi sprechen und den neuen Familien das Anknüpfen erleichtern, auch wenn dort in der Regel Deutsch gesprochen wird. „So geht die Arbeit mit Flüchtlingen in unsere Arbeit über. Das soll nichts Angehängtes sein, sondern natürlich ineinander fließen.“
Gelingensfaktoren und Grenzen
Eine der Herausforderungen ist es, immer gut zu beobachten und dann bedarfsorientiert und zeitnah Ideen zu entwickeln, gewohnte Bahnen zu verlassen, fantasievoll und spontan Neues zu entwickeln. Genauso wichtig ist es, im Blick zu behalten, was die Mitarbeiterinnen brauchen, um für neue Situationen gewappnet zu sein, sei es an Fortbildung, kollegialem Austausch, fachlicher Unterstützung oder Supervision.
Ein gut durchdachtes Konzept, wie beispielsweise der inklusive Ansatz der Einrichtung, ist der zentrale Gelingensfaktor. Aber ganz wesentlich ist auch, realistisch zu bleiben und die eigenen Grenzen zu bedenken: „Wenn ich mich auf eine bestimmte Arbeit einlasse, kann ich eine andere nicht machen. Ich muss mir überlegen, wo ich meine Prioritäten setze. Wir können nicht alle Menschen erreichen, das heißt, ich kann nicht 100 Familien gleichzeitig integrieren, aber vielleicht zehn. Und dann gelingt  es auch. Integration hat auch was mit Begrenzung zu tun“, so Lüders. „Das klingt jetzt paradox, aber bei aller Durchlässigkeit, Beweglichkeit, Öffnung muss es auch eine Begrenzung geben, damit wir uns als Einrichtung nicht überfordern. Die Ressourcen und die Komplexität im Blick zu behalten, das ist mein Auftrag als Bereichsleiterin.“
Als Mensch mit Bedürfnissen wahrgenommen werden
Lüders nimmt in den Stadtteilen sehr viel Offenheit wahr – die Bereitschaft, zu helfen, auch wenn die Menschen selbst nicht viel haben. In einem ihrer Familientreffs beobachtet sie eines Nachmittags, wie zwei türkische Frauen eine Flüchtlingsfrau fast schon bedrängen und ihre Kleidung sehr genau mustern. In der nächsten Woche holen die beiden Türkinnen die Frau in die Küche. Sie kleiden sie neu ein – mit einem kompletten Set, das sie extra vom eigenen Geld für sie gekauft haben. „So was rührt mich an. Das ist genau das, was wir uns wünschen: dass aus den Besuchern eine Gemeinschaft, ein Miteinander entsteht, dass sie sich gegenseitig das Gefühl geben, willkommen zu sein. Die Frau war hin und weg; sie hat den neuen Mantel nicht mehr ausgezogen. Zum ersten Mal seit der Flucht wurde sie als Mensch mit Bedürfnissen gesehen, hat sie selbst etwas bekommen. Und zwei türkische Frauen haben beschlossen: Jetzt geht es mal nur um diese Frau. Das ist auch meine Erfahrung mit Flüchtlingen: Sie tun alles für ihre Kinder, aber sie denken nicht an sich selbst. Die Kinder sind die Zukunft, viele flüchten ja auch wegen der Kinder. Aber es ist auch wichtig, dass sie selbst etwas bekommen als Eltern.“
Anerkennung erleben
Für die Menschen, die hier ankommen, geht es zunächst einmal um die Basics: Kleidung, Sprache, mal wieder das eigene Essen kochen können. Ist mein Kind gesund, bekomme ich eine Wohnung, finde ich Anschluss? Es geht um Anerkennung, Aufenthaltsstatus, Perspektiven in Deutschland. Auch psychische Belastungen beschäftigen die Familien.
„Von Flüchtlingen, die schon länger da sind, hören wir immer wieder, was für sie am wichtigsten war“, erzählt Lüders: „‚Einfach eine Person, die nett zu mir ist, die lächelt, bei der ich das Gefühl habe, mit dieser Frau kann ich mitgehen, die hat mich verstanden, die gibt mir Orientierung.‘ Es gibt ja so viel Verhaltensunsicherheit. Durch den Krieg ist alles weggebrochen: soziale Kontakte, Familie, das Vertraute, alles, was sie sich aufgebaut hatten, ist weg. Die Frauen kommen hier an, in einer Gemeinschaftsunterkunft, zu viert in einem kleinen Zimmer. Sie sind froh, hier zu sein, raus aus dem Krisengebiet. Aber ihre Familie leidet, und sie sind auch enttäuscht. Was haben sie nicht alles verloren!“
Die Frage ist immer, wie es gelingen kann, die Flüchtlingsfamilien zu erreichen und nachhaltig zu unterstützen, auch wenn das Familienzentrum keine Flüchtlingseinrichtung ist. „Wenn Flüchtlingsfamilien kommen, freuen wir uns, und sie gehören dazu. Aber wir sind auch für die Familien vor Ort da, da gibt es ja ebenfalls großen Bedarf. Wir versuchen, inklusiv zu denken und Beziehungen aufzubauen. Aber es braucht wirklich alle Akteure im Sozialraum, um die Familien, die kommen, gut begleiten zu können.“