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Interview

Corona-Notunterkunft: Pionierarbeit in den SOS-Kinderdörfern Düsseldorf und Essen

Die SOS-Kinderdörfer in Düsseldorf und Essen stellten im Herbst 2020 ein bisher einzigartiges Angebot auf die Beine: eine Notunterkunft für Kinder und Jugendliche, deren Eltern oder alleinerziehende Mütter/Väter durch eine Covid-19-Erkrankung ihre Kinder nicht mehr alleine versorgen können. In kurzer Zeit wurde ein bereichsübergreifendes Notfallteam gebildet, um das unter § 27 SGB VIII „Hilfe zur Erziehung“ laufende Kurzzeitangebot auf den Weg zu bringen. Im Interview erzählt Herbert Stauber, Einrichtungsleiter beider Kinderdörfer, welche Erfahrungen er und sein Team gemacht haben.

Herr Stauber, wie kam das Projekt der Corona-Notunterkunft zustande?
Die Idee wurde praktisch aus der Not geboren. Letztes Jahr im August und September kam das Jugendamt verstärkt mit Anfragen für Kinder auf uns zu, deren Eltern erkrankt sind und die nicht wussten, wo sie ihre Kinder unterbringen sollen. Zum Beispiel gab es eine Vierer-Geschwister-Gruppe, die plötzlich beim Jugendamt stand und in Obhut genommen werden musste, weil beide Elternteile auf die Intensivstation kamen. Dadurch war die Versorgung der Kinder nicht mehr gewährleistet.
Das Problem war, dass die Kinder nirgendwo unterkamen, auch nicht in der Inobhutnahmestelle, weil sie ja unter Quarantäne standen. Das Jugendamt wusste, dass wir Notwohnungen in Düsseldorf und Essen haben und fragte uns deshalb, ob wir unterstützen könnten. Wir mussten erstmal verneinen, weil wir kein Personal dafür hatten. Aber wir haben uns dann Gedanken dazu gemacht. Ich persönlich fand es erstaunlich, dass sich zuvor noch keiner mit dem Thema auseinandergesetzt hatte: Dass das familiäre System, das sonst bei Erkrankungen erstmal hilft, also die Versorgung durch Großeltern, ja wegfällt, weil diese wegen des Alters zu einer Risikogruppe zählen. 
Wie sind Sie dann konkret vorgegangen?
Wir haben dann in den beiden Einrichtungen angefangen, das Szenario der Corona-Notunterkunft mal durchzuspielen: Was brauchen wir eigentlich dafür? Was für eine Schutzausrüstung brauchen wir? Wie arbeitet man im Krankenhaus? Und dann haben wir – wertschätzend gemeint „verrückte“ Kolleginnen und Kollegen gefunden (lacht), die einerseits gesagt haben ‚Ich mache es, weil ich schon Corona hatte‘ oder die sich das mit den entsprechenden Schutzmaßnahmen vorstellen konnten. Zwei Kolleginnen in Essen, die beruflich früher als Krankenschwestern gearbeitet hatten, haben das Projekt dann vorangetrieben. Und ein Arzt, der schon in unserem Team war, hat uns beratend unterstützt und geholfen das Gesamtkonzept zu entwickeln.
Wie funktioniert das Konzept der Corona-Notunterkunft?
Wir nehmen Kinder auf, die in anderen Wohngruppen oder Inobhutnahmestellen nicht betreut werden können, weil der Verdacht besteht, dass sie erkrankt sind oder weil sie bereits positiv auf das Corona-Virus getestet wurden. Diese Kinder werden bei uns durch medizinisches und auch pädagogisches Personal betreut.
In einer eigenen Quarantäne-Wohnung betreuen wir die Kinder und Jugendlichen im 24-Stunden-Dienst. Sie dürfen in der Regel 14 Tage nicht raus, d.h. sie halten sich dann in dieser Zeit wirklich nur auf dem Gelände oder in den Wohnungen auf. Wir haben einen Garten, da kann man mit den Kindern zumindest bei gutem Wetter mal rausgehen. Die Kinder kehren sofort wieder zu den Eltern zurück, sobald diese aus dem Krankenhaus entlassen werden und die Betreuung übernehmen können. Die Grundidee ist natürlich, den Kindern auch Halt zu geben, den Kontakt zu den Eltern wenn möglich telefonisch herzustellen und sie über die Situation der Eltern fortlaufend zu informieren. Gleichzeitig übernehmen wir auch das Homeschooling und versuchen Freizeitangebote in Isolation zu gestalten.
Sie haben mit sehr unterschiedlichen Altersgruppen zu tun – welche Kinder haben Sie bisher betreut?
Also insgesamt haben wir nun zwölf Kinder und Jugendliche seit Oktober betreut. Entweder waren es kleinere Kinder, die positiv getestet wurden und deren Eltern ins Krankenhaus mussten und teilweise beatmet wurden. Oder es kamen Jugendliche, die aufgrund ihrer positiven Testung isoliert werden mussten, um keine anderen Jugendlichen zu gefährden. Die Altersspanne ist sehr breit – und wir wissen im Vorfeld nicht: Kommt da jetzt der Vierzehnjährige, der total selbstständig ist und sich eigentlich freut, wenn wir ihn gar nicht so intensiv betreuen (lacht)? Oder kriegen wir eine Zweijährige, die sehr viel Zuwendung benötigt? Oder es kommt womöglich ein Baby zu uns. Das macht die Sache herausfordernd aber auch interessant: Wir mussten sehr flexibel sein und auf die Notlage der Kinder eingehen. Doch in dieser Zeit entwickelt sich auch eine Beziehung und wir haben gesehen, wie dankbar die Kinder nach der Zeit bei uns sind, wenn alles gut gegangen ist und sie nach Hause zu den Eltern zurückkehren können.
Kinder und Eltern sind plötzlich getrennt. Wie gehen die Kinder mit dieser besonderen Situation um?
Mein Eindruck ist: Wir Erwachsenen machen uns da sehr viele Sorgen. Aber vor Ort erlebe ich, dass die Kinder sehr neugierig sind. Sie lassen sich erstaunlich gut auf die Situation ein und verstehen sogar, dass man Abstand halten muss. Man denkt immer: ‚Ach, wie soll ich jetzt einem Dreijährigen erklären, dass er eine Maske tragen muss?‘ Aber wir machen die Erfahrung, dass schon kleine Kinder ganz gut nachvollziehen können, dass sie Abstand halten und sich die Hände waschen müssen, wenn man es ihnen erklärt und auch ganz deutlich einfordert.
Natürlich machen sich die Kinder Sorgen um ihre Eltern und suchen den Kontakt – der Informationsfluss ist hier wichtig. Wir spüren ihre Unsicherheit durch die Fragen, die sie uns stellen wie: ‚Wann werden Mama und Papa gesund?‘. Da sind wir auf die Mediziner im Krankenhaus angewiesen – mal sind es zwei Tage, mal fünf oder 14 Tage, bis die Eltern entlassen werden. Wir nutzen Videoverabredungen mit den Eltern, während sie im Krankenhaus sind, damit ihre Kinder sehen, dass es ihnen besser geht. So versuchen wir die Zeit so gut wie möglich zu überbrücken – denn zwei Wochen können sehr lang werden!
Umgekehrt ist es auch für die erkrankten Eltern schwierig. Wie beziehen Sie diese ein?
Es gibt durchgängig einen Ansprechpartner auf unserer Seite, beim Jugendamt und auch im Krankenhaus, damit wir verlässliche Informationen bekommen und geben. Und damit auch die Eltern Bescheid wissen, wo ihre Kinder sind und wie es ihnen geht. Das ist ganz entscheidend, damit sie im Krankenhaus nicht unruhig werden oder sich zusätzlich Sorgen um ihre Kinder machen müssen, wenn sie sowieso schon körperlich und psychisch stark belastet sind.
Zur Isolation kommt noch das ungewohnte Umfeld. Wie „wohnen“ ihre Schützlinge in der Notunterkunft?
Wir haben die Wohnungen so ausgestattet, dass man sich gut vor einer Ansteckung schützen kann und es gleichzeitig auch etwas wohnlich ist – und nicht an ein Krankenhaus erinnert. Die Wohnungen sind eingerichtet mit einem Wohnzimmer, zwei bis drei Kinderzimmern und einer Wohnküche. Wir achten besonders darauf, dass sich die Kinder dort wohlfühlen können. Ob es die Bauklötzchen für die Kleinen sind oder die Spielkonsole für die Jugendlichen – alle haben Möglichkeiten, um sich abzulenken. Die Wohnungen sind auch mit sämtlichen technischen Mitteln ausgestattet. So „facetimen“ wir zum Beispiel mit Jugendlichen, mit denen wir nicht immer direkten Kontakt haben müssen. Und wir versuchen in den ersten Tagen möglichst auf die Essenswünsche der jungen Menschen einzugehen. Dann gibt es direkt am Anfang auch schon mal eine Pizza, die zum Wohlbefinden beiträgt.
„Auf einmal haben Mitarbeiter*innen aus Wohngruppen und den ambulanten Hilfen zusammen gearbeitet und gesehen, was stationäre Arbeit bedeutet. Und jene aus der stationären Arbeit haben vom Umgang mit kleinen Kindern gelernt. Genau diese Zusammenarbeit hat uns zusammengeschweißt.“

Wie läuft die Aufnahme in der Notunterkunft ab?
Da gibt es ganz genaue Handlungspläne. Einige Räume wurden zu Funktionsräumen umgestaltet, zum Beispiel dient der Flur als „Hygiene-Schleuse“, in der wir uns an- und entkleiden. Gerade wenn ein Kind ein bestätigtes positives Testergebnis hat, arbeiten wir permanent mit Ganzkörper-Schutzkleidung. Das ist fast wie im Krankenhaus. Hier schützen wir uns und unsere Kolleg*innen maximal. „Safety first“ – lautet der Plan. Die Kinder kommen bei uns in einem speziellen Krankenwagen für Corona-Erkrankte an, dann gehen wir durch die Hygiene-Schleuse in die Räumlichkeiten und lassen sie erst einmal ankommen. Idealerweise sind dann schon zwei Kolleg*innen vor Ort für die Betreuung – eine Fachkraft arbeitet im Quarantäne-Bereich und eine unterstützt von außerhalb. Aufgrund der Quarantäne-Situation haben wir laufend Kontakt zum Gesundheitsamt, mit dem die Abläufe abgestimmt wurden.
Sie blicken auf eine intensive Zeit zurück. Leisten Sie Pionierarbeit mit diesem Projekt?
Ja eventuell (lacht) …, zumindest kenne ich noch keine andere Einrichtung! Und wir haben vor allem „im Tun“ gelernt. Es war ein permanentes Lernen, weil wir immer wieder vor neuen Situationen standen und stehen, auf die wir uns erst einmal einlassen müssen. Aber es hat auch Spaß gemacht zu sehen, wie motiviert und engagiert sich ein Team gefunden hat, das mehr gegeben hat als notwendig! Die Kolleginnen und Kollegen kamen aus unseren verschiedenen Angeboten zusammen – auf einmal haben Mitarbeiter*innen aus Wohngruppen und den ambulanten Hilfen zusammen gearbeitet und gesehen, was stationäre Arbeit bedeutet. Und jene aus der stationären Arbeit haben vom Umgang mit kleinen Kindern gelernt. Genau diese Zusammenarbeit hat uns zusammengeschweißt. Wir sind aber auch an unsere Grenzen mit unserem Personal gekommen, als das Angebot stark nachgefragt war. Und auch im Moment, wo der Bedarf gering ist, stehen die Kolleg*innen aus den unterschiedlichen Teams immer auf Abruf. Deshalb sind wir froh, dass wir zwei Medizinstudentinnen einstellen konnten, damit wir das Angebot bis Oktober 2021 aufrechterhalten können.
Herbert Stauber, Einrichtungsleitung SOS-Kinderdörfer Düsseldorf und Essen (Interview: Juli 2021)
Titelfoto: macniak, istockphoto.com
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