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Strukturierte Reflexion des pädagogischen Handelns

Strukturierte Reflexion des pädagogischen Handelns

Extern begleitete Peergruppentreffen zählen zu den drei wesentlichen Bestandteilen des Qualifizierungsprogramms für Berufseinsteigerinnen und -einsteiger in den stationären Hilfen des SOS-Kinderdorf e.V. Sie bieten den jungen Fachkräften einen geschützten Rahmen, in dem sie sich über herausfordernde Situationen ihres Arbeitsalltags austauschen und ihr eigenes pädagogisches Handeln reflektieren können. Einmal im Monat treffen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus verschiedenen stationären Angeboten des Trägers in ihrer jeweiligen Region.
Reinhold Graf begleitet die Treffen im Münchener Raum als Supervisor. Im Interview gibt der Sozialpädagoge und Organisationsberater einen Einblick, wie der Austausch in einer Peergruppe abläuft und mit welchen Methoden und welchem Ziel Lösungen erarbeitet werden.
Wie läuft ein typisches Peergruppentreffen ab?
Wir beginnen mit einer ersten Runde, in der jeder kurz mitteilt: Was beschäftigt mich gerade im Zusammenhang mit der Arbeit und welchen Fall, welche Fragestellung würde ich heute gerne in der Peergroup behandeln? Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer informieren die Gruppe auch, wie es mit den Themen aus dem letzten Treffen weitergegangen ist. Danach wählen wir gemeinsam aus, was wir in welcher Reihenfolge bearbeiten wollen.
Wie entscheiden Sie über die Reihenfolge der Themen?
Vorrang haben Themen, die unmittelbar in der Arbeit mit Klienten aufgekommen sind. Dann besprechen wir auch allgemeine fachliche Fragen, die sich auf einer abstrakteren Ebene bewegen. An dritter Stelle sehe ich den Bereich Koordination und Kooperation innerhalb eines Teams, hier kommen z.B. Konflikte mit Kolleginnen und Kollegen zur Sprache.
Wie geht es nach der ersten Runde weiter?
Die Person, die das Thema einbringt, schildert noch einmal genauer, worum es ihr geht, und formuliert dann eine konkrete  Beratungsfrage, auf die sie von den Kolleginnen und Kollegen eine Antwort möchte. Diese haben die Möglichkeit, Rückfragen zu stellen, bevor die oder der Betroffene aus der Runde heraustritt und der Beratung „von außen“ zuhört.
Die anderen Peergruppenmitglieder beraten sich nun untereinander, wobei sie zunächst assoziativ vorgehen: „Was fällt mir dazu ein, kenne ich etwas Ähnliches? Was könnte dahinter stecken?“ Schließlich folgt eine Lösungsrunde, bei der jeder aus seiner Sicht auf die Beratungsfrage antwortet. In der letzten Runde reflektiert die Person, die das Thema eingebracht hat, welche Impulse für sie neu und interessant waren und was ihr weiterhelfen könnte.
Wie sieht Ihre Rolle als Supervisor in der Gruppe aus?
Meine Rolle besteht einerseits in der Moderation. Ich gebe Impulse, bezogen auf die Art und Weise, wie wir das Thema behandeln und welche Mittel wir einsetzen können, um die Situation zu visualisieren oder einen anderen Zugang zu finden. Zum anderen steuere ich die Beratung, indem ich die Assoziationen der Peers durch Fragen und eigene Interpretationen ergänze. Immer dann, wenn ich das Gefühl habe, ein bestimmter Aspekt wurde noch nicht benannt, dann formuliere ich ihn.
Wo ziehen Sie die Grenze zwischen einem Erfahrungsaustausch unter Peers und einer Supervision?
Supervision ist strukturierte Reflexion, in der es um die Auswertung oder die Bewertung von Handeln geht mit dem Ziel, daraus Erkenntnisse oder Schlüsse zu ziehen.
In den Peergruppentreffen gehen supervisorische Elemente und Austausch fließend ineinander über. Das Gespräch, mit dem wir in der Peergruppe starten, ist nicht so stark strukturiert wie in einer Supervisionsgruppe. Es wird viel mehr Zeit darauf verwendet, Erfahrungen auszutauschen und von- und miteinander zu lernen.
In der sich anschließenden Supervisionseinheit versuche ich, mit den Peers verschiedene Anteile herauszuarbeiten, und das immer mit der angemessenen Methodik: Was ist mein Anteil in dieser Rolle, was betrifft die Organisation, was ist der systemische Kontext, in dem das passiert, was sind meine Handlungsmöglichkeiten?
Was ist das Besondere an dieser Art der Supervision in einer Peergruppe?
Ganz wesentlich ist, dass die meisten Peergruppenmitglieder, die hier zusammenkommen, im Arbeitsalltag nicht als Team  zusammenarbeiten. Was sie in der Supervision im Rahmen des Programms verbindet, ist zum einen die Tatsache, dass sie noch nicht lange in ihrem Berufsfeld tätig sind, und zum anderen, dass sie noch nicht lange bei SOS-Kinderdorf arbeiten. Mit dem Arbeitgeber sind wiederum ganz spezifische Fragen verbunden wie: Welche Konzepte, welche Dynamiken gibt es in den Wohngruppen, in den Familiengruppen und in den Kinderdorffamilien? Wie verorten sich darin die Fachkräfte?
Welche Erwartungen stellt die Gruppe an Sie?
Die von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern formulierte Erwartung ist natürlich, dass sie von diesen Treffen etwas mitnehmen und dass ergebnisorientiert gearbeitet wird. Unausgesprochen wünschen sich die Berufseinsteigerinnen und -einsteiger einen geschützten Rahmen, wo sie sich austauschen können, dass jemand da ist, der darauf achtet, wie weit sie sich einlassen und wie viel sie von sich preisgeben. Sie wünschen sich jemanden, der auch Verantwortung übernimmt und sie in gewisser Weise schützt. Und dann erwarten sie wohl auch, dass es jemanden gibt, der sie versteht.
Inwiefern brauchen die jungen Fachkräfte beim Peergruppentreffen Schutz?
Mit dem beruflichen Einstieg im pädagogischen Bereich können viele Punkte berührt werden, an denen man selber persönlich betroffen ist. Ein Beispiel: Ich arbeite als 23-jährige Frau mit 18-jährigen Jugendlichen, und diese legen es auf einen Machtkampf an oder darauf, mit Grenzverletzungen zu spielen. Wie komme ich damit zurecht, wenn sie versuchen, mich nicht nur als Pädagogin, sondern auch als Frau zu provozieren?
Dann ist es auch nicht einfach, Scheitern zur Sprache zu bringen oder schwierige Situationen, in denen man sich des eigenen Handelns nicht sicher ist. In der Runde ist es ganz wichtig, darauf zu achten, dass alle Beiträge auch respektvoll behandelt werden. Um Schutz zu geben, frage ich immer nach: „Wollen Sie das wirklich behandeln? Welchen Schutz brauchen Sie?“ Und erst nach diesem Innehalten lasse ich die Person starten. Schützen kann auch bedeuten, vorschnelle Ratschläge von anderen abzuschirmen, wie z.B.: „Wieso hast du es denn so gemacht? Da muss man doch so oder so handeln!“
Wie machen Sie das? Solche Ratschläge sind ja schnell ausgesprochen.
Das gelingt gut, indem die Person, die betroffen ist, während der Beratung außerhalb der Runde steht und nicht mehr direkt angesprochen wird. Entscheidend ist, dass ich die Gruppe steuere und dass die beratenden Kolleginnen und Kollegen in die unterschiedlichen Rollen schlüpfen: Wie würde es mir gehen in der Rolle des Kindes? Wie würde es mir gehen als Mutter dieses Kindes?
Welche Themen bringen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein?
Ganz zentral ist das Thema „Grenzen setzen“: Wie sehr lasse ich mich von Jugendlichen provozieren, wie sehr lasse ich mich auf eine persönliche Auseinandersetzung ein? Da geht’s darum, sich abzugrenzen und aktiv Regeln vorzugeben; wichtig ist aber auch die Abgrenzung als innere Haltung.
Viel Raum nehmen auch komplexe pädagogische Fragestellungen ein und das Suchen nach sinnvollen pädagogischen Interventionen. Wenn zum Beispiel ein stark verhaltensauffälliges Kind ein Team an seine Grenzen bringt.
Dann gibt es noch das Feld der Teamzusammenarbeit, z.B. die Frage: Wie gebe ich einer Kollegin eine kritische Rückmeldung so, dass sie diese annehmen kann und das Feedback auch etwas bewirkt? Oder: Wie verhalte ich mich Vorgesetzten gegenüber?
Gibt es Themen, die Sie in der Peergruppenarbeit ausklammern?
Wir haben in unserer Peergruppe vier Fachkräfte, die in ihrer Einrichtung in einem Team zusammenarbeiten. In der großen Runde würde ich keine Fragen der Zusammenarbeit aus diesem Subsystem besprechen, das gehört meines Erachtens in die Einrichtung.
Inwiefern kann die Arbeit in der Peergruppe die Sicherheit im Beruf stärken? Welche Wirkfaktoren sehen Sie?
Entlastend ist für die Berufseinsteiger immer, zu merken: Ich bin nicht allein, andere sind mit den gleichen Fragen beschäftigt, andere kochen auch nur mit Wasser. Mit diesem Netzwerk im Hintergrund wissen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, wo sie sich zwischendurch Unterstützung holen und auch mal anrufen können. Der dritte Aspekt ist die Sicherheit, die sie durch die Supervision gewinnen. Derjenige, der den Fall einbringt, bekommt konkrete Hilfe. Darüber hinaus nehmen auch die anderen aus jeder einzelnen Fallberatung inhaltliche Anregungen für die eigene Arbeit mit.
Wo liegen aus Ihrer Sicht die Grenzen der Peergruppenarbeit?
Die Peergruppentreffen ergänzen die regelmäßige Team- und Fallsupervision in den Einrichtungen. In dem Rahmen können die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Arbeit in ihren jeweiligen Teams und die konkreten Fälle vor Ort unmittelbar reflektieren und bewältigen. Das kann die Peergruppenarbeit im Rahmen dieses Programms nicht ersetzen. In unseren Treffen kann es nur um ausgewählte Einzelpersonen mit ihren sehr persönlichen Fragestellungen gehen.
Was ist Ihr Wunschergebnis für dieses Programm mit Blick auf das Ende des ersten Durchgangs?
Ich wünsche mir, dass meine Arbeit im Rahmen dieses Programms dazu beiträgt, dass sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an kritischen Punkten unterstützt, ermutigt und gestärkt fühlen. Es ist ja durchaus möglich, dass Berufsanfänger sich nach einem anderen Arbeitsfeld umschauen, wenn sie mit zu großen Herausforderungen allein gelassen werden. Damit dies nicht passiert, brauchen sie ein Unterstützungssystem und die Möglichkeit, belastende Themen anzusprechen. Damit helfen wir ihnen, zügig Sicherheit im pädagogischen Handeln zu erlangen. Das kommt einerseits den Betreuten zugute und trägt andererseits dazu bei, die neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter langfristig an SOS-Kinderdorf zu binden.